Heute erzähle ich euch, wie der blaue Vogel Piep in die Welt kam.

Es war ein gewöhnlicher Samstagnachmittag, als Rolf vor einer Aufgabe stand, die er so nicht erwartet hatte: Zwei lebhafte Mädchen, sechs und acht Jahre alt, sollten für ein paar Stunden in seiner Obhut bleiben. Seine Frau und ihre Freundin, die Mutter der Mädchen, hatten die Kinder kurzerhand bei ihm gelassen. Rolf, ein Mann, der gewohnt war, technische Herausforderungen zu meistern und mit ruhiger Hand Probleme zu lösen, stand nun vor einer völlig neuen Herausforderung: Kinderbetreuung.

Er wusste sofort – Erfahrung hatte er in diesem Bereich nicht. Doch was er immer konnte, war Geschichten erzählen. Fantasievolle Geschichten, die oft mehr der kindlichen Vorstellungskraft als der Realität entsprachen. Und genau das war sein Rettungsanker an diesem Nachmittag.

Während die Mädchen ihn fragend ansahen, überlegte er kurz und ließ seinen Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Da fiel sein Blick auf seinen blauen Pullover. Eine Idee formte sich in seinem Kopf. Schnell schlüpfte er in den Pullover, zog den Ärmel über seine Hand, bis nur noch die Fingerspitzen hervorstanden. Damit simulierte er einen Schnabel und hielt seine Hand den Mädchen entgegen.

„Darf ich vorstellen,“ sagte er mit tiefer, geheimnisvoller Stimme, „das ist Piep, der blaue Vogel.“

Die Mädchen sahen ihn erstaunt an, ihre Augen weiteten sich. Sie hatten so etwas noch nie gesehen. Rolf wusste, er hatte ihre Aufmerksamkeit.

Der blaue Vogel Piep begann zu sprechen. Mit einer leicht piepsigen, aber doch entschlossenen Stimme erzählte er, wie schwer seine Jugend war. Er sprach von fernen Ländern, von weiten Himmeln und gefährlichen Abenteuern. „Ich musste vier Geschwister ernähren,“ begann er, „weil meine Eltern von einem großen Adler entführt wurden.“ Die Mädchen hingen gebannt an seinen Lippen, gespannt auf die nächste Wendung.

Piep erzählte weiter, wie er den Mut aufgebracht hatte, den Adler zu verfolgen, hoch in die Berge zu fliegen und gegen alle Widrigkeiten seine Eltern zu befreien. „Es war ein harter Kampf,“ piepste er, „aber schließlich habe ich es geschafft, sie zu retten.“ Die Mädchen saßen still, ihre Augen funkelten vor Spannung. Rolf konnte spüren, wie die Magie der Geschichte sie ergriff.

„Und so kam ich schließlich nach Deutschland,“ schloss Piep, „wo ich nun neue Abenteuer erlebe. Aber das ist noch nicht das Ende meiner Geschichten.“ Rolf zögerte kurz, bevor er den finalen Trumpf ausspielte. „Ich habe noch viele Geschichten zu erzählen. Vielleicht wollt ihr wissen, wie ich den Regenbogen gesehen habe, oder wie ich einmal dem Wind ein Schnippchen schlug?“ Die Mädchen nickten eifrig. Piep war nun ihr Held, und sie wollten mehr hören.

Rolf nannte noch die Titel der nächsten Geschichten, die Piep zu erzählen hatte, und die Mädchen versanken ganz in der Vorstellung, was für Abenteuer wohl noch auf den kleinen blauen Vogel warteten. Es war, als wäre die Zeit für einen Moment stehen geblieben.

Als die Mutter der Mädchen zurückkehrte, konnte sie kaum glauben, wie ruhig und zufrieden die beiden waren. Rolf, der sich zuvor etwas unsicher gefühlt hatte, war nun in seinem Element – der Geschichtenerzähler, der aus Fantasie Welten erschuf, in denen Kinder sich verlieren konnten.

Und so blieb Piep, der blaue Vogel, in den Köpfen der Mädchen noch lange lebendig – und mit ihm die versprochene nächste Geschichte.